Anja Kraft - Martin Breuer - Amador Vallina
drei Räume - drei Künstlerpositionen - drei Techniken

Kunst hoch 3

Einführung Sabine Idstein M.A., Kunsthistorikerin

19. Dezember 2014 - Kunstverein Eisenturm Mainz e.V., Mainz, Mainz

Drei

 

Ich habe die Ehre in Folge Drei der Ausstellungsreihe „Kunst hoch 3“ einführen zu dürfen: Drei Künstler, drei Techniken, drei Räume ist das Motto. Die Kuratorin Dagmar Ropertz hat drei Künstler gefunden, deren Werk sich kombinieren lässt, da es trotz der geforderten Unterschiede auch Gemeinsamkeiten aufweist.
Für mich ist Teil Drei zunächst einmal Anlass über die Bedeutung der Zahl drei nachzudenken. Und etwas bösartig fällt mir zunächst die Redensart ein „wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“, und „nicht bei Drei auf dem Baum sein“ ist wirklich verrufen, oder in „Dreiteufelsnamen“ ein Fluch.
Mit dem Dichter Friedrich Schiller gesprochen heißt es „der Dritte im Bunde“ und ist schon deutlich positiver besetzt. „3 Kreuze machen“ kann der, der nach großer Anstrengung endlich fertiggeworden ist. Letzteres haben sicher die Kuratorin und die Künstlerin heute früh um 0:30 Uhr gemacht, als die Installation fertig war und die Technik lief.
„Aller guten Dinge sind drei“ möchte ich in meiner Einführung herausarbeiten und dabei Dagmar Ropertz loben für die gelungene Auswahl und ich hoffe, Sie sind haben sich schon davon überzeugt, oder ich kann Ihnen vielleicht helfen.
Alle weiteren positiven Redensarten beziehen sich auf die heilige Zahl drei, die man wiederum findet in Dreierkonstellationen wie der Deëisis, der Dreifaltigkeit, in den drei Königen und ihren Gaben, im architektonischen Dreipass und Triforium, außerdem in den drei theologischen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung.
Folglich weist die christlich geprägte Bildtradition viele Dreierkonstellationen auf aber sie steht auch auf einem Fundament und so galt beispielsweise schon im Vorchristlichen Altertum die Dreizahl als ein Symbol der Vollkommenheit und selbst in der Aus stellungspraxis ist die „Drei“ etwas Besonderes: denn eine Ausstellung mit bis zu drei Ausstellern gilt noch nicht als Gruppenausstellung sondern immer noch als drei Einzelausstellungen.
Spannend ist, dass sich die beiden Herren ganz auf diese Singularität einlassen und im jeweils zugeordneten Raum eine unabhängige Präsentation eines Teils ihres Œuvres schaffen, während die einzige beteiligte Dame einen verbindenden Part übernimmt. Sie bringt die drei Ausstellungen in Harmonie, verzichtet auf Abgrenzung und Eigenbrötlerei und schafft stattdessen einen Dialog und eine Klammer. Und dieses sehr weibliche Herangehen erinnert mich, im erzkatholischen Mainz und in einem mittelalterlichen Stadtturm und ausgelöst durch die Heilige Zahl, an das Bild der Schutzmantelschaft. Doch dazu später.


Martin Breuer

 

Martin Breuer nutzt alle vier Wände eines der Kabinetträume des Turmanbaus für seine Landschaftsbilder. Und es erscheint ein wenig, als würde man nun aus weiteren Fenstern schauen und Ausblicke auf das Rheinhessendörfchen Framersheim werfen. Der wahre Ausblick durch die Sprossenfenster steht dazu im diametralen Kontrast: Dunkelheit, Straßenfluchten, Fußgänger, Bewegung, künstliches Licht, der moderne Bau der Rheingoldhalle, eine Kreuzung mit Ampeln.
Wir stellen uns vor: Martin Breuer, 1952 in Berlin geboren und zunächst dort aufgewachsen, lebt später in Frankfurt und Mainz. Er zieht im zarten Alter von Mitte 50 nach Framersheim, in ein rheinhessisches Weindorf. Dort kauft er sich ein Haus und beginnt jetzt, da er mehr Platz und sicherlich auch Zeit hat, mit der Ölmalerei, nachdem er bereits ein breites zeichnerisches Œuvre vorzuweisen hat. An die Malerei kommt er zufällig. Ein Französischkurs fällt aus, er geht stattdessen in einen Malereikurs bei Sven Schalenberg.
Und nun, technisch ausgebildet und mit Talent ausgestattet, braucht er Motive zum Malen im heimischen Atelier. Was malt er? Er malt ab! Wovon? Von seinen Fotografien, die er 2008, ein Jahr nach seiner Übersiedlung angefertigt hat. Die Motive hat er mit der 6 x 6 Hasselblatt-Mittelformatkamera in schwarz-weiß eingefangen: Es ist eine Dokumentation und Bestandaufnahme der neuen Heimat.
Auffällig ist, die Bilder des Dorfes sind menschenleer. Wer würde auch hier die Kamera auf Individuen der überschaubaren Dorfgemeinschaft, auf die in diesem Ort seit Generationen und Jahrhunderten tiefverwurzelte Nachbarschaft richtet. Aber im Ernst, dort auf dem Lande sind, wie man so schön sagt, die Bürgersteige hochgeklappt. Der Fotograf trifft ohnehin nicht auf in die Landschaft drapierte Staffagen. Es sind kleine zweigeschössige Häuser, die er einfängt. Sie zeichnen sich aus durch Verfall der Fassade, Verlassenheit, Aufstockung, Umbau.
Breuer lugt hinter die charakteristischen Absperrungen, mit denen man sich misstrauisch vor unliebsamen Blicken schützt. Er findet einen Traktoroldtimer, die Ernte und Behältnisse für Tiernahrung, Mauern, Zäune, Tore, Transportgerät (die sog. Rolle), eine deplatzierte Skulptur mit einem barocken Jüngling, der mit schwingender Hüfte ein Füllhorn, das Symbol für den Überfluss der Natur, trägt. Schließlich schießt Breuer das Bild des in Baumaßnahme befindlichen Gartens seiner Lebensgefährtin. Dieses Motiv und der Blick auf die Badewanne geben Ausblick. Der Fotograf schaut von oben herab. Garten und Badewanne wirken einladend, mitzumachen. Ein Bad auf der Wiese unter freiem Himmel, das wäre doch was.
Der Platz auf den anderen Motiven ist stets begrenzt. Immer wieder stößt die Kamera auf Wände, Grenzen, enge Straßen. Oft ist die Perspektive eine Untersicht. Obwohl alles kleinteilig ist, ist der Fotograf noch kleiner, nimmt respektvoll Kenntnis von den Symbolen menschlichen Lebens und von den Geschichten, die die alten Häuser und das landwirtschaftliche Gerät erzählen. Breuer berichtet, diese Serie sei seine umfangreichste, obwohl er das Leben auf dem Dorfe bereits wieder verworfen hat.
Zwischen 2010 und 2014 entstehen 15 Bilder. Tatsächlich ist es keine Serie sondern ein Zyklus. Am Ende schließt sich der Kreis, denn die ersten Bilder malt er am Ende neu. Ist der Zyklus zunächst eine Reihe an Eroberungs- und Integrationsversuchen, so steht der Maler, der sich im Kreis gedreht hat, am Ende wieder am Anfang. Der Blick wird nun allerdings abgeklärter. Indem die ersten Bilder aber zerknickt, zerrissen und geschändet werden, bevor sie auf die Leinwand kommen: wird der Kampf des Malers mit dem Motiv deutlich. Es wird mehrfach reproduziert. Die Annahme und Vereinnahmung geschieht in Schritten. Das Motiv geht aus einem Prozess der der Reproduktion von Wirklichkeit, der Zerstörung des Abbildes, der Rekonstruktion des Abbildes, des Reproduktion durch erneute Fotografie und dann durch Vereinnahmung durch die Malerei vonstatten.
Meine erste Assoziation, als ich die Framersbilder sah, war eine romantische. Die Natur ist grün, der Himmel blau. Der Wandervogel fällt mir ein, der die schöne Stätte auf seinem Weg vorfindet und das Ambiente genießt. Naturverbundenheit fällt mir ein, Kindheit auf dem Lande, Licht, gute Luft, Motive von Ruinen in der Natur, die Begeisterung für die Burgen im Mittelrheintal. Bilder von Otto Philipp Runge „Die Hülsenbeckchen Kinder“, oder Bilder von Caspar David Friedrich, Maschinen bei William Turner. Bei Breuer in Framersheim ist alles Dargestellte proletarischer, einfacher als meine Assoziationen, aber wir befinden uns auch im 21. Jahrhundert und nicht auf dem Weg ins 19. Jahrhundert.
Verklären wir heute das idyllische Landleben jener, die im Industriezeitalter nicht in die Städte geflohen sind? Rheinhessen gilt als romantisch. Und dass ich die Motive schön finde, geschieht aus einer gewissen Erfahrung, denn als hessisches Landei weiß ich, dass die äußere Form schöner ist als der Inhalt. Als ich erwähne, dass die Bilder schöner als die Wirklichkeit wären, bringt das Breuer zum Nachdenken, und so verstärkt er die Brüche, intensiviert den Verfall, kühlt die Farbigkeit ab. Schön und romantisch soll es wohl nicht sein, ist es dort auch nicht. Schön und romantisch ist der Blick des Städters auf das Landleben. Es geht dem Maler um das Abbild einer Empfindung, die offenbar nicht positiv geprägt ist.
Als Landei weiß ich, was er meint. Ob man die Reserviertheit der seit Generationen hier verwurzelten Bewohner gegenüber dem Zugezogenen und die Abgeschiedenheit von städtischer Unterhaltung und Kulturvielfalt malerisch darstellen kann, ist die Frage.
Die Bilder des Framersheimzykluses leben häufig von einem starken, plakativen Kontrast. Aus dem Schwarzweiß wurde ein sattes Grün in verschiedenen Nuancen, Signalrot, ein warmes Gelb, helles Grau. Auch Weiß und Schwarz gehören zur Farbskala des Framersheimzykluses bis 2012. Die neuen Bilder, nochmal stark vergrößert, arbeiten mit Hautfarbe und einem giftigen Türkis. Nicht Fisch nicht Fleisch fällt mir dazu ein, denn das Inkarnat vor allem vom letzten Bild hat einen Glanz, der an die bereits glänzende Farbigkeit von in den Verwesungsprozess übergehenden Zustand von Fischschuppen erinnert.
Wer das Landleben gut kennt, weiß, dass unter der schönen Oberfläche, die aber dazu neigt hermetisch abgeriegelt zu sein, meist allerhand Abgrund verborgen liegt. Dem Zugezogenen bleibt das Meiste sicherlich für Generationen verborgen, aber den Fassaden Breuers sieht man sehr wohl an, dass sie Abschotten, Mauern setzten und schon in ihrer Struktur auf Hintergründiges verweisen.
Insofern hat Dagmar Ropertz ein scharfes Auge bewiesen, als sie in den Zyklus eine Diskrepanz zwischen Oberfläche und Untergrund erkannte.


Amador Valina

 

Der Spanier Amador Vallina stellt seine auf Naturmaterialien und Fundstücken basierenden Skulpturen auf den Sockel und hängt sie an die Decke. Er nutzt das gesamte Volumen des kleineren Kabinettzimmers und macht hier das Dreidimensionale erlebbar. Eine Vielzahl an grotesk, dämonischen Skulpturen und Objekten, sowie an Rundschilder erinnernde Reliefs fügen sich im relativ kleinen Format und in ihrer düsteren Sublimität in den mittelalterlichen Raum mit den massiven Mauern gut ein.
Material und Oberflächen der Arbeiten Vallinas erinnern an Kuriositäten und Pretiosen, wie sie in den Frühformen der Ausstellungen, nämlich den Kunst- und Wunderkabinetten präsentiert wurden. Es lässt sich auch an Tierpräparate denken. Seit dem 16. Jahrhundert sammelten weltliche und kirchliche Fürsten, Adelige und reiche Bürger kostbare oder seltene Objekte der Kunst und der Natur, sogenannte Raritäten, die man in Naturalien, Artefakte, Wissenschaftliche Instrumente und Exotika unterteilte. Diese Exponate stellten die hohen Herren in eigens dafür konzipierten Räumen vor. In Vallinas Präsentation verbinden sich alle genannten Sparten und mit der hölzernen Kompassnadel (1) ist sogar das wissenschaftliche Gerät vorhanden.
Das Exotische, einst von Seefahrern aus den Kolonien mitgebracht, gibt es allerdings in den Zeiten des www und der Globalisierung nicht mehr. Vallina schöpft es selbst aus dem bereits verfügbaren Altbekannten und zwar aus jenem, welches im Allgemeinen unbeachtet bleibt. Es sind Fundstücke und damit ist auch er ein Sammler. Getrocknetes, Verwestes, Skelettiertes, Verschrumpeltes Naturmaterial, sogenannte Arme Materialien werden von ihm durch Kombination mit anderen solchen Fundstücken verfremdet und mittels Firniss konserviert und mit einer gemeinsamen ledrig-erdfarbenen Haut verbunden. Die Objekte sind von rostiger, morbider Farbigkeit, scheinen mutiert, verletzt oder verwandelt. Und so muten seine manchmal deformierten oder vernarbten figürlichen Wesen schließlich archaisch, fossil und wehrhaft an.
Indem die an Kleinlebewesen erinnernden Objekte im Vergleich zu einem eventuellen Naturvorbild gewaltig aufgeblasen sind, wirken die Wesen erschreckend, ihre raue heterogene, aufgebrochene, schuppige Oberfläche begünstigt diese Wirkung.
Hatten die frühen Sammler von Skurrilität eine Vorliebe für Botanik, Zoologie, Erdwissenschaften und präsentierten sie u.a. versteinerte Fische, Rüstungen, Korallen und Haifischzähne, so basiert Vallinas Œuvre auf einer äquivalenten Mannigfaltigkeit an natürlichen Fundstücken, die meist aus seinen beiden Heimaten, nämlich Spanien oder Deutschland stammen, oft aus dem Wald oder vom Ufer der Gewässer mitgenommen wurden. Vallina begeistert dieses Material. Jedes Fundstück ist ein Unikat von außerordentlicher Schönheit. „So etwas kann man nicht imitieren“, sagte er mir, und strich dabei durch das feine Haar an seinem monumentalen Urfisch.
Und so schafft er aus: Agaventeilen, Bananen, Eisen, Feigenkakteen, Jakarandastücken, Knochen, Langusten-Gräten, Lederstücken, Maiskolben, Muscheln, Palmblättern, Skeleten, Steinen, Wurzeln und Ziegenhaaren, um nur eine Auswahl zu nennen, unheimliche Wesen von starker Präsenz.
Auch umgestaltete Kokosnüsse und ziselierte Straußeneier haben in den Wunderkammern ihren Ursprung, sie stehen häufig auf einem filigranen Sockel in Gold oder sind mit kostbaren Edelsteinen geschmückt. Doch Vallina ist nicht auf materielle Wertigkeit aus. Seine Figurationen sind bodenständiger, gehören sie doch in der Einfachheit der Bestandteile Strömungen der Arte Povera an und sind eher aus Liebe zum Detail in ihrer Schau auf die Kostbarkeiten der Welt zu verstehen.
Die Reliefs oder Materialbilder an den Wänden in ihrer Düsternis erinnern an „Nachtstücke“, Werke, die Johann Georg Sulzer 1777 in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste folgendermaßen definiert hat:


»Nachtstük [sind] Gemählde, deren Scene weder Sonne noch Tageslicht empfängt, sondern nur durch Fakeln oder Lichter unvollkommen erleuchtet wird. [...] Alle eigenthümlichen Farben, deren eigentliche Stimmung von dem natürlichen Tageslicht oder Sonnenschein herkommt, verlieren sich in dem Nachtstück, das alle Farben ändert. Alles nimmt den Ton des künstlichen Lichts an [...] Daraus folget, daß das Nachtstük dem Auge durch den so mannichfaltigen Reiz der Farben, nie so schmeicheln werde, als ein anderes Stük; und in der Tat sind die meisten Nachtstüke so, daß ein nach Schönheit begieriges Auge wenig Gefallen daran findet. [...]«


Vallina gibt zu, dass er mit diesen Werken nicht auf Gefälligkeit aus ist und reiht sich stattdessen bei jenen Künstlern ein, die sich mit der Ästhetik des Dunklen und Häßlichen beschäftigen. Edmund Burke schrieb 1757 darüber eine Abhandlung mit dem Titel “A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful“. Es geht darum, was das Erhabene oder Sublime sei, das die Wirkung des wohligen Schauderns auslöse.
Die Romantik (1795 – 1835) befasst sich nicht nur mit extremen Emotionen, den idyllischen Landschaften, der Sehnsucht, der Leidenschaft und Schwärmerei, sondern auch mit der „Schwarzen Romantik“, dem Unheimlichen, Irrationalen, Rätselhaften, Unbewussten, Krankheiten wie dem Wahnsinn, und mit der Nacht. Ich erinnere an das Gemälde „Der Nachtmahr“ (1790) von Johann Heinrich Füssli. Im nächtlichen Schlafzimmer liegt eine weißgekleidete Frau kopfüber auf einem Bett. Auf ihrem gebogenen Bauch sitzt ein dunkler Gnom, hinter ihm schaut ein weißes Pferd durch die Gardinen herein und dreht wirr die Augäpfel: Füssli, „The Wild Swiss“ zeigt das, was auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit sitzt und sich unserer Seele bemächtigen will. Er hat immer wieder klassische englische Themen mit Charakteren aus dem Volksglauben seiner Heimat der Schweiz bereichert.
Zeitgenossen, die das Sublime oder die Gothic-Novel in der Literatur vertreten haben sind: Mary Shelly mit ihrem Frankenstein, Bram Stoker mit Dracula oder E.T.A. Hoffmann mit u. a. dem „Sandmann“ oder den „Elixieren des Teufels“. Genau dieser Tradition entstammen die Werke Vallinas, die man auch von seinem Landsmann Francisco Goya kennt.
Vallina stammt aus dem Norden Spaniens, wo sich Sagen um mythologische Wesen aus der keltischen Zeit erhalten haben. Wie Füssli vom Schweizer Volksglaube an kleinen Naturwesen nicht ganz frei war, so ist auch Vallina von den Kobolden aus seiner Heimatregion geprägt. In beiden Fällen wird die Natur beseelt, was in den Bereich Pantheismus fällt. Wer sollte ihm das verdenken hier in Mainz, wo es doch die Mainzelmännchen gibt.
Und wenn ich Sie noch ein bisschen gruseln darf - geneigte Zuhörer -, bevor Sie sich die Werke Vallinas erneut anschauen, dann lauschen Sie doch kurz einer Stelle aus dem Sandmann von ETA Hoffmann:


»Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die  Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.«


Anja Kraft


Anja Kraft schließlich nutzt mit ihrer Installation das gesamte Turmgeschoss. Ihre Arbeit ist mehrteilig, raumbezogen und damit temporär, denn ihre Existenz als Ganzes ist auf die Ausstellungsdauer limitiert. Die Installation nutzt die gigantische Raumhöhe des Hauptraumes und schwebt über dem Boden von der etwa fünf Meter hohen Decke herab. Ein Geflecht aus Draht setzt sich scheinbar im Kämmerchen unter der Treppe bis in den angrenzenden Flur fort. Anja Kraft, die Frau unter den Künstlern, verbindet die getrennten Räume, arbeitet mit Rhizomen, nimmt das Motto der Dreizahl formal durch die drei Achsen auf und bringt auch ihre beiden Partner in ihrer Arbeit ein. Auf den Projektionsflächen kommen sie zusammen, werden aber auch ausgespäht mittels Überwachungstechnik und selbst die Besucher werden observiert.
Kraft, die sicher den größten Kraftaufwand hatte, diese leichte, transparente Installation vor Ort zu schaffen, verbindet Getrenntes zur Einheit, schafft Harmonie aber auch soziale Kontrolle. Vier nackte Thujastämme ohne schützende Rinde über Gelenke mit zwei Kiefern verbunden. Der mittlere Stamm ist durch das schmückende Element eines Strahlenkranzes aus Drahtästen mit bunten Avokadokernhälften ausgezeichnet und bildet die Krone der Installation. Die äußeren Stämme tragen den durchscheinenden Seidenstoff, der sich wie ein leichter Mantel in sanfter Draperie ausbreitet und die Projektionen in sich aufnimmt.
Die freigelegten Stämme erinnern haptisch und optisch an nackte menschliche Haut oder aufgrund ihrer Filigranität sogar an das hautlose Gebein einer Reliquie. Mein Gedanke an die christlichen Märtyrer wird noch verstärkt, indem Kraft die abgezogene Haut an der Wand ausstellt. Kennen Sie den Heiligen Bartolomäus, dem die Haut abgezogen wurde? Selbst Michelangelo nutzt in der Sixtinischen Kapelle in Rom dieses Motiv des Nackten im Himmelreich, der seine abgezogene Haut als Attribut und Ausweis seiner Identität in Händen hält.
Nun tritt zum Gedanken der abgezogenen Haut und der Märtyrerknochen für mich ein anderes Bild. Die monumentale Gestalt in der Raummitte ist ein ikonografischer Typus, der zur Bauzeit des Eisenturmes weite Verbreitung fand: Es sind die skulpturalen Schutzmantelschaftsdarstellungen. Diese beziehen sich auf die Vorstellung der Mater omnia, die alle Welt unter ihren Mantel birgt. Die Madonna ist durch eine Krone oder einen Heiligenschein gekennzeichnet und eine Krone trägt die herausgehobene Thuja hier auch. Gerade auch die Falten im Textil erinnern an liebevolle Herausarbeitungen der Kleidung mittelalterlicher Heiligenbildnisse. Kraft nimmt in ihrer Schutzmantelmadonnenanverwandlung das Thema der Ausstellung in den ausgebreiten Mantel auf.
Die beiden farblich und durch ihre Rinde abweichenden Kiefern, können als Assistenten der stehenden Figur gedeutet werden und gemäß der gängigen Darstellungen der Schutzmantelmadonna flankierende Engel symbolisieren, die beim Manteltragen helfen.
Auch stammen die verwendeten Kiefern von ehemalige Weihnachtsbäume, die zur Erbauung der damals noch kindlichen Tochter Anja Krafts aufgestellt wurden. Damit ist die Assoziation Weihnachtsbaum gleich Engel garnicht sooooo weit hergeholt.
Das Thema Muttergottes wird noch verstärkt durch die Darstellung einer stilisierten Vagina und einem dazu passenden Babys auf der Empore.
Nun schützt Maria die Menschheit unter ihrem Mantel weniger vor irdischem Unglück als vor dem Zorn des höchsten Richters, Gottvaters bzw. Christus. Seit dem 15. Jahrhundert – Zeitpunkt des Ausbaus dieses Turmgeschosses - sind oft die Vertreter der geistlichen und weltlichen Stände unter dem Schutzmantel versammelt. Standardpersonal sind der Papst auf der einen Seite und der Kaiser auf der anderen. Auf Vallina und Breuer übertragen: betrachtet die Webcam die weltliche Seite (den Kaiser), sie ist auf Framersheim gerichtet. Mit einer Webcam schafft sich der Betrachter einen Überblick. Die Standkamera dagegen fixiert andachtsvoll etwas Geistliches und so werden die Arbeiten Vallinas (Papst) zur Rechten Mariens als pantheistische Schau verstanden.
Kraft verbindet in ihrer Installation gemäß der Madonna, Muttergottes ein mütterliches Prinzip, die Verbindung von sozialer Kontrolle mit der Schutzfunktion. Und dazu passt auch eine weitere Assoziation nämlich die des Dreimaster Selgelschiffes.
Der mittlere Stamm bildet in dem Schiffsbild den Mastbaum mit dem Ausguck: das Motiv des Schauen und Überblick bewahren befindet sich bereits in den Projektionsflächen und passt daher zum Gesamtbild. Zumal bestimmte Dreimaster in den Marinen der iberischen Staaten bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hauptsächlich als Nachrichten- und Meldeschiffe, als Aufklärer und Vorpostenschiffe dienten.
Zu dem Schiffsbild passt auch das netzartige Geflecht. Es passt zu dem Segelschiff als ausgeworfenes Schleppnetz. Ein solches Netz ist auch als „Das große Garn“ bekannt und als wäre die Drahtschnur Garn, ist Kraft damit auch verfahren: nähend und häkelnd. Das Netz ist somit ausgeworfen und wird dem Schiff zum Fang von Lebensmitteln hinterher gezogen. Das Netz überwindet dabei die Raumgrenze, so wie Kraft, alle Abgrenzungen auflöst.
Gegen Ende des Mittelalters wurden dreimastige Schiffe gebaut und stellten im 15. Jahrhundert einen wichtigen Teil der Handelsflotte der Hanse dar. Aus ihnen wurde in Spanien und Portugal die Karavelle entwickelt, mit der Christoph Kolumbus, Ferdinand Magellan und Vasco da Gama ihre Entdeckungsreisen unternahmen. Und schließlich endet die Fahrt mit dem hölzernen Dreimaster in der Zeit der Romantik: Das berühmte Gemälde William Turners „die letzte Fahrt der Fighting Temeraire“ von 1838, das auch einen Dreimaster zeigt, erinnert daran, dass das Ende der Seefahrt und die Ablösung durch Dampf- und Motorschiffe im 19. Jahrhundert stattfand.
Die Ikonographie des Schiffmotivs ist sehr reich, man denke an die Arche, an Charon der die Toten auf einem Schiff zur Unterwelt geleitet, an Odysseus Irrfahrt per Schiff oder an das Narrenschiff. Platon spricht von der Lebensfahrt des Menschen über das Meer der Welt. Casper David Friedrich hat das Schiff immer gerne verwendet. Im Barock steht es für bürgerlichen Wohlstand der Kolonialstaaten. Das Schiff steht für metaphysische Grenzüberschreitung oder für metaphorische Gegenwelt zur etablieren, bürgerlichen Lebensform. Die Schiffsmetapher wird häufig aber für den Staat oder sogar den Kontinent Europa genutzt.
Ich fasse an dieser Stelle nicht zusammen, sondern überlasse Sie Ihren Gedanken. Verstehen Sie meine Ideen als Anregung, den Raum mit Ihren Augen und Ihrer Auffassung erobern zu dürfen.


Fazit


Zum Schluss möchte ich sagen: Ich empfinde die Ausstellung als anregend und vielfältig. Zeitgenössisch ist für mich der Naturbezug, den alle drei unterschiedlich aufgreifen. Sei es die Natur der Weiblichkeit, die Natur als Dorf oder die Beseelung der Natur. Heute in Zeiten von Bionahrung versus Chlorhühnchen ist die Frage nach der Natur wieder zunehmend interessant. Spannend ist der Rückbezog und das Geschichtsbewusstsein. Die Romantiker standen am Beginn der Industrialisierung und warfen schon ähnliche Fragen auf. Recycling und ein sorgsamer Umgang mit Ressourcen ist ein Ideal, an dem wir alle arbeiten. Was mich in dieser Ausstellung fasziniert hat, ist, das alle drei mit einer gewissen Nähe zur Epoche der Romantik ausgestattet sind. Und das passt wiederum hierher, an den Rhein und in den Turm.

Einführung in die Ausstellung: Sabine Idstein M.A., Kunsthistorikerin
Sabine Idstein - Einführung.pdf
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